nä: Frau Dr. Horst, Sie haben sich erst spät dazu entschlossen, Ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin zu beenden. Hat sich der "späte Aufbruch" gelohnt?
Dr. Horst: Aufgebrochen bin ich aus einer alternativen beruflichen Situation, die für mich leider nicht mehr passte. So habe ich mich entschlossen, wieder als Ärztin zu arbeiten und Fachärztin zu werden. Der Einstieg in die Klinik, am AKH Celle, war unglaublich schwer und erforderte meine volle Konzentration und viel Unterstützung. Ein roter Teppich wurde nicht ausgerollt. In den zwei allgemeinmedizinischen Weiterbildungspraxen hier in der Nähe meines Wohnortes wurde alles leichter. Jetzt in Immensen habe ich meine Kollegin, mit der ich gern kooperiere, Mitarbeiterinnen, die langjährig gern in dieser Praxis arbeiten und deren Erfahrung ich nicht missen möchte, schöne, barrierefreie Praxisräume, eine Apotheke, ein Betreutes Wohnen, einen Zahnarzt in der direkten Nachbarschaft. Ein Dorf mit 2400 Einwohnern, die Erstaunliches für die Dorfstruktur auch in vielen ehrenamtlichen Stunden auf die Beine stellen. Der Aufbruch hat sich gelohnt, weil er in einer sinnvollen Arbeit mündete, die mir große Freude bereitet.
nä: In die Niederlassung mit über 50 Jahren - das ist nicht der normale Berufsweg einer Medizinerin? Wie ist er bei Ihnen verlaufen?
Dr. Horst: Mein ganzes Berufsleben war ich Familienfrau und Mutter. Die Arbeitsbedingungen für Ärztinnen in dieser Lebenssituation waren bis vor wenigen Jahren gelinde gesagt bescheiden. Ein kurzbefristeter Vertrag löste den nächsten ab. Um doch so etwas wie eine berufliche Heimat zu bekommen, habe ich von 1994 bis 2002, und dann noch einmal von 2006 bis 2011 in Berufsschulen unterrichtet. Die Jahre dazwischen ohne Berufstätigkeit waren für mich besonders prägend, da ich mich intensiv um enge Familienangehörige in ihrer letzten Lebenszeit kümmern durfte, wollte und musste. Damals begann ich zu überlegen, meine medizinische Weiterbildung wieder aufzunehmen. Ab 2011 war ich in Weiterbildung am AKH in Celle in der Kardiologie und später in der Geriatrie. Dort habe ich zuerst eine wegweisende junge Internistin als Mentorin an die Seite gestellt bekommen, später habe ich eine mich sehr ansprechende ärztliche Haltung von meiner Oberärztin in der Geriatrie übernehmen dürfen. Die ganzheitliche und kooperierende Arbeitsweise dieser Abteilung führe ich heute in meiner Praxis fort.
nä: Nach der Facharztprüfung - wie ging es weiter?
Dr. Horst: Ich habe schnell festgestellt, dass für mich gerade wegen meiner körperlichen Einschränkung, meinem fortgeschrittenem Alter von 55 Jahren und meinem Wunsch nach beruflicher Heimat und Kontinuität eine Niederlassung in einer Kooperation die einzige Alternative darstellt. Davor hatte ich mich intensiv umgehört und auch die Beratungsmöglichkeiten der KVN wahrgenommen. Über die Ausschreibung im Niedersächsischen Ärzteblatt kam es dann zu einem guten Kontakt zu Dr. Hollmann. Er suchte altersbedingt eine Nachfolgerin für seine Praxis hier in Immensen, die er seit den 80er Jahren aufgebaut hatte, als Teil seines Lebenswerkes. Der frühere Bauernhof hier war auf seine Initiative und seine Ideen architektonisch ansprechend und funktional in ein Ensemble aus Arztpraxis, Apotheke und Seniorenzentrum umgebaut worden. Zum März 2016 erhielt ich meine Zulassung.
nä: Wie war Ihr erster Arbeitstag als niedergelassene Ärztin? Ein ganz neues Gefühl?
Dr. Horst: Der erste Arbeitstag in der eigenen Praxis bleibt natürlich in Erinnerung! Weil ich seit vier Monaten regelmäßig Vertretungen für Dr. Hollmann übernommen und das Umfeld gut kennengelernt hatte, konnte ich den Tag entspannt genießen. Unsere Mitarbeiterinnen und meine Kollegin haben mich sehr unterstützt. Auch die schönen Räume hatten eine wohltuende Wirkung. Am ersten Tag der Niederlassung war dann das neue Praxisschild vor der Tür, und einige Patienten haben uns Glückwünsche und Blumen mitgebracht. Das hat uns gefreut.
nä: Aber hatten Sie nicht befürchtet, dies alles könnte Sie mit über 50 Jahren überfordern?
Dr. Horst: Zu Anfang hatte ich den Eindruck: Diese Fußabdrücke sind zu groß für mich. Nur: Zu klein ist auch keine Alternative. Ich bin in der glücklichen Situation, hier mit einer erfahrenen Kollegin zusammenzuarbeiten. Fr. Galina Henne stammt aus Angarsk in Sibirien, arbeitet seit 15 Jahren hier in der Praxis und kennt sich mit allem aus. Wir arbeiten Hand in Hand. Und vor allem: Wir kennen und akzeptieren unsere Schwächen und nutzen unsere Verschiedenheit. Ich selbst werde noch laufend routinierter, vertiefe mich weiter in Patienten, die ich neu kennenlerne. Wir teilen unsere Sprechstunden so untereinander auf, dass wir für unsere Patienten und Patientinnen auch am Freitagnachmittag eine Sprechstunde anbieten und die Praxis an jedem Werktag im Jahr öffnen.
nä: Sie kamen als Vertretung, jetzt sind Sie Chefin. Was hat sich verändert?
Dr. Horst: Zuerst einmal hat sich die Arbeitssituation völlig umgedreht. Es gibt keine Befristungen mehr wie in der Weiterbildungs- und Vertretungszeit. Mit der Selbständigkeit habe ich jetzt eine langfristige Perspektive, die Menschen kommen zu mir als ihrer Ärztin. Als "Chefin" stehe ich hier in der Mitte. Wir haben vier medizinische Fachangestellte, alle langjährig beschäftigt und alle sehr kompetent, jede in ihrem Bereich. Die Patientenakten sind beeindruckend gut geführt, auch die Praxis-EDV ist leistungsfähig. Bei Interessenkonflikten dürfen wir als Chefinnen Entscheidungen treffen und vorgeben: "Das läuft jetzt so!"
nä: Gerade Ärztinnen befürchten schwierige betriebswirtschaftliche Fragen im Rahmen der Niederlassung. Wie war das bei Ihnen?
Dr. Horst: Einen Haushalt habe ich ja Jahrzehnte erfolgreich geführt. Der Berater meiner örtlichen Volksbank hat mit mir mein erstes Geschäftskonto eröffnet und mich über Kreditmöglichkeiten beraten. Ich habe vertrauensvoll mit unserem Steuerberater gesprochen. Erst nach und nach erschließt sich mir die KV-Abrechnung. Aber die Berater der KVN waren dabei sehr hilfreich. Ich habe mich das ganze erste Jahr über von meinen Ansprechpartnern sehr gut betreut gefühlt. Dazu gehen wir zu Fortbildungen vom Hausärzteverband und lassen uns beraten.
nä: Wo lagen denn Herausforderungen für Sie?
Dr. Horst: Durch meine Niederlassung bin ich in das kassenärztliche System eingestiegen, das sich einem erst erschließen muss. Zu diesem System habe ich JA gesagt. Ermutigung habe ich beim Treffen von Ärztinnen aus vielen Nationen beim Weltärztinnenkongress in Wien im August 2016 erhalten. Die Bedingungen sind nirgendwo optimal, jedoch ist die kompetente Arbeit von Ärztinnen auf der ganzen Welt notwendig im wahrsten Wortsinn.
nä: Rückblickend betrachtet - würden Sie Ihren Werdegang anderen Kolleginnen empfehlen?
Dr. Horst: Es gibt viele Medizinerinnen, die ähnlich wie ich aus wichtigen und verständlichen Gründen ihre Ausbildung unterbrochen haben. Ihnen mache ich Mut, Möglichkeiten des Wiedereinstiegs auszuloten. Das eigene Potential kann genutzt werden, zum Allgemeinwohl und um die eigene Power zu spüren. Und es gibt Unterstützungsangebote. Das jüngste kommt übrigens von mir: Auf dem nächsten Seminarkongress Norddeutscher Hausärzte in Lüneburg biete ich zusammen mit meiner Freundin und Kollegin aus Braunschweig, Fr. Dr. Regina Grünke, die Veranstaltung "Chancen für Ärztinnen in der Allgemeinmedizin" an. Denn die Allgemeinmedizin bietet nun endlich für den Wiedereinstieg geeignete Möglichkeiten. Und das Schöne daran: In der Allgemeinmedizin werden wir immer besser, je länger wir praktizieren.